Der Berg
In der Mitte der Bühne, zwischen gelben Gurten, die von der Decke hängen, zwischen Karten, die auf durchsichtiges PVC gemalt sind, zwischen Bildern und Kühlschränken und einem hängenden Container, umgeben von Scheinwerfern, Menschen und Gedanken, steht ein Berg aus Pappmaché. Er ist etwa ein Meter achtzig hoch und sein Durchmesser misst mehr als zweieinhalb Meter. Der Berg ist mit grauer und weißer Farbe angemalt, ein bisschen wie auf einem Ölgemälde. Er ruht. Er ist einfach da, man bemerkt ihn eine Weile lang fast gar nicht. Schwer zu sagen, was für eine Bedeutung er trägt und ob er etwas sagen möchte.
Nach einer ganzen Weile erwacht der Berg. Es ist, zuerst, als geriete etwas in seinem Inneren in Schwingung. Er tönt, zuerst ganz leise, dann etwas deutlicher. Der Berg scheint auditive Signale zu senden. Langsam dringen die Schwingungen aus seinem Inneren bis an seine Haut. Sie beginnt leicht zu vibrieren und pulsieren. Es knackt und raschelt.
Schließlich beginnt der Berg, sich zu bewegen. Seine Spitze wächst ganz leicht nach oben. Es ist, als ob er zu schweben beginne und, von magischer Hand geleitet, über den Bühnenboden gleite. Zuerst dreht er sich ein wenig um sich selbst. Er testet Bewegungen in unterschiedliche Richtungen. Immer wieder gerät er mit den Aufbauten und hängenden Bühnenelementen in Konflikt. Die Bewegungen des Berges changieren zwischen Orientierungslosigkeit und zielstrebiger Fortbewegung. Plötzlich erscheint seine Haut verletzlich und durchlässig.
Während sich der Berg über die Bühne bewegt, kommuniziert er unablässig mit seiner Umgebung. Er tönt und dreht sich, er zuckt und läuft. Es scheint so, als wolle der Berg seine Umwelt ansprechen, verzaubert und beruhigen. Die Menschen um ihn herum, sie machen ihm Platz. Manche wollen ihn, trotz seines Alters und seiner friedvollen Ausstrahlung, provozieren und ihm den Weg versperren. Schließlich aber findet der Berg einen neuen Ort.
Von Kreta hat er sich Richtung Beirut bewegt. Aus dem Berg Ida ist der Mount Lebanon geworden, oder einer der großen Müllberg an der Küste Beiruts. Er schickt einige letzte Signale, damit er auf der Halde, neben dem weißen Container, seinen Platz finden kann. Und aus dem Berg schlüpft etwas Neues.
Die Trauernde
Langsam und fließend schält sich eine Figur aus der Pappmaché-Attrappe. Sie scheint aus dem Bauch des Berges geboren zu werden, oder – wie ein kleiner Fluss – herauszufließen. Die Figur trägt eine auffällige weiß, schwarz und pink bedruckte Motorradhose. Über ihrem Steißbein ist dabei in großen weißen Lettern das Wort RACING gedruckt, ein offensichtlicher Widerspruch zu ihrer zunächst ruhigen, fast schon meditativ anmutenden Bewegungsqualität. Ihr Oberkörper ist schwarz eingekleidet und sie trägt einen schwarzen Schleier über dem Kopf, der ihre Gesichtszüge verdeckt.
Aus einer zusammengefalteten Position auf dem Boden heraus beginnt die Figur sich langsam zu orientieren. Zunächst auf Händen und Knien sucht sie nach Zeichen. Ganz leicht trommelt sie mit ihren Fingerspitzen auf den Tanzboden, fährt immer wieder imaginäre Bodenlinien ab und dreht sich dabei um die eigene Achse. Es scheint so, als wäre sie fremd an diesem Ort, zugleich aber mit unterirdischen Kräften in Kontakt.
Die Tänzerin trägt einen Schleier, der ihr Gesicht verhüllt und ihr ein fragiles und zugleich unheimliches Aussehen verschafft. Die Tatsache, dass ihr Gesicht verhüllt ist, scheint die Figur zugleich zu schützen und sie verletzlich zu machen. Die Zuschauer:innen wissen nicht, ob sie von der Figur gesehen werden oder nicht, ob die Tänzerin sich orientieren kann oder selbst blind ist. Offensichtlich ist hier eine andere Ebene des Sehens und Fühlens am Werk, als eine rationale Überblicks- und Navigationsfunktion.
Eine wichtige Referenz für den Trauertanz von Maria F. Scaroni ist die kurze Filmarbeit ‘Stendali’ von Cecilia Mangini. Die zentrale künstlerische Frage für Scaroni ist: Wie kann die Trauer gefasst werden, d.h. eine Form bekommen? Denn nur insofern sie ein Form bekommt, kann die Trauer sichtbar werden und gehalten werden.
Trauertanz
Die Performerin ist die italienische Künstlerin Maria F. Scaroni, eine Choreographin, Tänzerin und Lehrerin, die in Berlin lebt. Ich habe sie eingeladen, im Rahmen des Rechercheprojektes ‘The Great Report’ im Medium des Tanzes eine Reaktion auf das gesammelte Recherchematerial zu entwickeln. Während des gesamten Rechercheprozesses erzählen das Team und ich Maria von unseren Reisen und Erlebnissen. Sie nimmt zunächst Informationen und Ereignisse, Gefühle und Fragen auf und verarbeitet sie im Bezug auf das eigenen Bewegungsrepertoire. So werden unsere Erzählungen später zur Grundlage ihrer Performance.
Dabei folgt meine Einladung an Maria, die zunächst widersprüchlich erscheint – Wie soll die gesamte Informationsdichte der Recherchen vertanzt werden? Was kann der Tanz gegenüber der schieren Masse von gesammelten Informationen, Gewalttaten und Geschichten ausrichten? – einer Intuition, die sich im Folgenden als produktiv beweist:
Meine eigene Position als Initiator eines Rechercheprojektes, das sich mit Logistik als zerstörerischer Warenchoreographie und mit der Frage nach weißen Privilegien in einer neo-kolonial und imperial strukturierten Welt auseinandersetzt, ist fragil und problematisch. Die bloße Dokumentation und Abbildung der Gewaltverhältnisse in Nigeria, im Libanon und auf Kreta stellt keine legitime künstlerische Antwort auf Fragen nach Klimagerechtigkeit, nach kolonialer Vergangenheit und Gegenwart und nach meiner eigenen fortlaufenden Verstricktheit in Strukturen von Ausbeutung und Zerstörung dar.
Zugleich bin ich mit Gefühlen der Ohnmacht, Schuld und Scham konfrontiert. Wie kommt es, dass ich mir die Aufgabe gebe, ein Abbild meiner eigenen Beteiligung an globalen Wirtschaftskreisläufen und damit meine Mittäterschaft an der fortlaufenden Entrechtung und Ausbeutung von Menschen, der Ausbeutung von Rohstoffen und der Zerstörung des Planeten zeichnen zu müssen? Wem ist damit geholfen?
Während meine eigene Position mir selbst während des Probenprozesses immer problematischer und damit unhaltbarer erscheint, gelingt es Maria F. Scaroni einen Raum der körperlichen Verarbeitung und der tänzerischen Trauerarbeit zu schaffen, in dem die gesammelten Recherchematerialien verarbeitet und verdaut werden und zugleich eine sanfte, aber nachdrückliche Lust an Lebendigkeit Ausdruck findet.
Dabei kommt dem Tanz im Gefüge der Rechercheprojektes eine besondere Rolle zu: Er eröffnet einen Ort der Affektion, der emotionalen Verarbeitung und exzessiven Körperlichkeit, dem es gelingt, sich auf der feinen Linie zwischen Trauer und ausgelassener Lebendigkeit zu bewegen. Während die erzählerische Reproduktion von Gewaltverhältnissen teilweise einen lähmenden Charakter hat, öffnet der Tanz im Rahmen des Great Report einen Ort der emotionalen Arbeit an der eigenen Ohnmacht und Verstricktheit.
Um diesen Raum herstellen zu können, beruft sich Maria in ihrer tänzerischen Verarbeitung immer wieder auf unterschiedliche Figuren und Charaktere aus ihrer langjährigen Tanzkarriere. Neben dem Berg und der Trauernden taucht zunächst die Figur der Närrin auf.
Die Närrin
Nachdem die Tänzerin sich zunächst am Boden zu orientieren versucht, beginnt sie vorsichtig, sich zu erheben. Weil sie ihre Glieder immer wieder neu in unterschiedliche Raumrichtung anordnet, scheint sie auf wackeligem Boden zu stehen. Wie ein Harlekin nimmt Maria F. Scaroni unterschiedliche a-symmetrische Formen ein, so dass ihr Körper der Figur eine Närrin zu ähneln beginnt. Sie bewegt sich auf um sich selbst kreisenden Bahnen durch das Publikum, wie bei einem alten Ritual auf dem Gipfel eines weiteren, imaginären Berges. Immer schwingt dabei eine untergründige, unheimliche Trauer mit.
Im Tarot stellt der Narr den Beginn der sogenannten Großen Arkanas dar, die eine spirituelle Reise symbolisieren. Auf klassischen Darstellungen der Karte sieht man einen tanzenden Jüngling, der eine Rose in der Hand hält und gedankenverloren in den Himmel schaut. Er scheint sorglos und fröhlich, und wird von einem Hund begleitet, der auf seinen Hinterbeinen stehend dargestellt ist. Zugleich tanzt der die Närrin am Rande des Abgrunds, den sie selbst nicht zu bemerken scheint. So ist schwer zu sagen, ob der Hund mit ihr tanzt, oder sie zu warnen versucht.
Dabei scheint sie während dieser gesamten ersten tänzerischen Improvisation, in der sie unter anderem auf die Methode von ‘Authentic Movement’ zurückgreift, andere Körper neben ihrem eigenen, sichtbaren Körper an- und aufzurufen. Diese anderen Körper mögen unserer Vorfahren sein, es sind aber zugleich die Geister der Menschen, denen wir auf unseren Recherchen begegnet sind. Langsam bewegt sich Maria F. Scaroni so von Beirut Richtung Lagos.
Auf einer der Gitterbretter der Installation zu unserer Recherche in Nigeria findet Maria dann scheinbar zufällig ein Glas, mit dem sie zu spielen beginnt.
Glas, Container und Logistik
Zunächst hüllt sich Maria aus einer vermeintlich blinden Geste heraus in eine der großen Fahnen neben dem Gittertisch, auf dem eine Fotografie aus Nigeria gedruckt ist. Mit dieser Fahne als Umgang erkundet sie die Installation. Dabei findet sie eine Art Marmeladenglas. Mit dem Glas beginnt sie auf dem Gittertisch zu spielen und schwere, ratternde Geräusche zu produzieren, während gleichzeitig Wasser oder Öl aus der großen Musikanlage im Raum zu tropfen scheinen. Dabei entkommt das Glas immer wieder fast ihrer Kontrolle, wie als wäre es selbst von unsichtbaren Kräften animiert.
Als sie das Glas öffnet, entweicht ihm im ersten Moment Vogelgezwitscher, das sich dann langsam in einen Technosoundtrack zu verändern beginnt. Dabei changiert die Bedeutung des Glases. Zunächst mag es als die Box der Pandora erscheinen, aus der das Böse in die Welt entwichen ist: die Gier, die Gewalt und unsere scheinheilige Apathie dieser Gewalt gegenüber. Es ist damit vielleicht auch eine Metapher für die Unmöglichkeit einer Einhegung der Kraft des Öls, das in Nigeria, und anderswo auf dem Planeten, oft unter fragwürdigen politischen und ökologischen Bedingungen gewonnen wird. Der dunkle Geist der Gier und der Beschleunigung kann nicht mehr beherrscht und eingefangen werden.
Mit einer Fahne als Trauertuch oder Rock beschwört die Tänzerin dann eine Art Altar, über der eine große PVC-Folie mit Werbesprüchen aus der Logistik schwebt. Das Glas wird auf dem Tisch abgestellt, während Maria sich eine weiße Perücke aufsetzt, die später in der Performance noch einmal auftaucht. In seiner Funktion als Container verweist das Glas dabei auch auf die Tätigkeit der Logistik und, indirekt, auf das technische Gerät des Schifffahrtscontainers. In einer ambivalenten Geste scheint Maria F. Scaroni die logistischen Tätigkeiten der Verpackung, Verschiffung und Vermarktung zugleich zu feiern und zu betrauern.
Telefon und Trauergesang
Nach einer dunklen, unheimlichen Beschwörung des Logistik-Altars wird das Glas noch einmal ganz anders, d.h. als falsches Theater-Requisit genutzt: Es scheint zum Telefonhörer zu werden, indem Maria das Glas sowohl an ihr Ort hält, es aber auch als Sprechmuschel verwendet, in die sie hineinspricht. In einer Art unverständlichem Kauderwelsch, der zugleich an Trauergesänge, an Internetkommunikation und an ausgelassene Berichte aus der Fremde erinnert, spricht Maria in das Glas.
Sie changiert dabei zwischen Weinen und ausgelassener Freude, bevor sie dann in das Glas hinein zu singen beginnt. Indem sie seine Position an ihrem Mund immer wieder verändert, stimmt sie eine mysteriösen Trauergesang an, der zuerst von weiteren Vögelstimmen und dann von der Musik Katharina Pelosis begleitet wird. Damit wird das Glas zum Aufbewahrungsgefäß für die Trauer über unsere Komplizenschaft in die globale Choreographie der Logistik.
Zugleich spricht das Glas von einer andereren Form des Geschichtenerzählens: In ihrer ‘Carrier Bag Theory of Fiction’ beschwört die Schriftstellerin Ursula K. LeGuin an Hand einer einfachen Opposition zwischen Tasche und Speer eine solche Alternative: Geschichten, schreibt sie, können wie Waffen funktionieren, indem sie auf einen tödlichen Höhe- oder Wendepunkt hin konstruiert sind. Oder sie können der Sammlung von kleinen oder großen Erlebnissen dienen, nicht von vornherein zugespitzt, aufgeladen, dramatisiert. Was uns Maria damit fragt, wie können wir anders erzählen, anders berichten – über die Gewaltverhältnisse, in denen wir leben und für die wir mitverantwortlich sind?
Nothing Personal
Eine andere Art des Erzählens von Verbindungen über Kontinente hinweg erscheint etwa in der Mitte von Maria F. Scaronis Performance. Auf Händen und Knien bewegt sie sich zunächst zum Ausgangspunkt ihrer Performance zurück, zu dem Ort, an dem ursprünglich der Pappmaché-Berg stand. Am Grund des Berges war ein Haufen Überbleibsel zurückgeblieben, unter anderem ein aufblasbares Plastik-Einhorn, pinke Rollschuhe, und einige auf DIN A4-Papier gedruckte Texte, in die sie sich jetzt hineinsetzt.
Mit einer Art Vogelpfeifen lockt Maria das gesamte Publikum näher an den kleinen Müllberg heran. Dann greift sie einige Papiere, die dort herumliegen, und beginnt, eine Passage aus dem Text ‘Nothing Personal’ von James Baldwin vorzulesen, der 1964 in einem gemeinsam mit dem Fotografen Richard Avedon herausgegeben Bild- und Textband erschienen ist. Maria trägt den Text mit einer sanften, zugewandten Stimme vor, persönlich und intim, wie als würde sie eine Gutenacht-Geschichte erzählen. Sie spricht das Publikum direkt an, und stellt damit ein Moment der Verbindung her:
Pretend, for example, that you were born in Chicago and have never had the remotest desire to visit Hong Kong, which is only a name on a map for you; pretend that some convulsion, sometimes called accident, throws you into connection with a man or a woman who lives in Hong Kong; and that you fall in love. Hong Kong will immediately cease to be a name and become the center of your life. And you may never know how many people live in Hong Kong. But you will know that one man or one woman lives there without whom you cannot live. And this is how our lives are changed, and this is how we are redeemed.
What a journey this life is! dependent, entirely, on things unseen. If your lover lives in Hong Kong and cannot get to Chicago, it will be necessary for you to go to Hong Kong. Perhaps you will spend your life there, and never see Chicago again. And you will, I assure you, as long as space and time divide you from anyone you love, discover a great deal about shipping routes, airlines, earthquake, famine, disease, and war.
Zugleich stellt der Text einen Kommentar auf die Funktion globaler Logistik dar, die, unterhalb ihrer totalen Kommerzialisierung und ihrem fanatischen Effizienzstreben, als eine Form der Verbindung und Verbindlichkeit, und damit als Potential für Liebe gelesen werden kann. Um eine solche direkte Verknüpfung von Körpern geht es auch im darauffolgenden Teil der Performance. Zunächst zieht sich Maria F. Scaroni dafür die rosa Rollschuhe an, die auf dem kleinen Müllhaufen liegen.
Paket und Paketbotin
Ganz vorsichtig, wie als ob sie noch nie vorher auf Rollschuhen gestanden hätte, beginnt Maria sich aufzurichten. Dabei sucht sie die körperliche Verbindung zu den Menschen, die um sie herumsitzen. Sie nutzt sie dafür, ihr beim Aufstehen zu helfen und ihre Balance zu finden. Immer wieder fällt sie beinahe hin, greift sich aber im letzten Moment einen fremden Arm oder eine Schulter. Sie spielt die verrückte Dilettantin.
Nach einer Weile löst sie das Spiel auf und beginnt, den gesamten Raum zu erkunden. Es ist jetzt klar, dass sie eigentlich sehr gut Rollschuh-Laufen kann. Der Raum wird wieder hell und Maria performt Tricks: Sie kommt ganz plötzlich vor Menschen zu stehen, flirtet sie an, greift ihre Arme, um sich mit großem Schwung in eine neue Richtung ziehen zu lassen. Sie wird selbst zum Paket,dass zwischen den Zuschauer*innen hin und her geschickt wird und schafft dabei flüchtige Verbindungen zwischen den Menschen im Publikum.
Während dieses gesamten Teils der Performance sind die Geräusche der Rollerskates auf dem Bühnenboden sehr präsent. Sie erinnern stark an das Geräusch von Wind, das auf der musikalischen Ebene aufgegriffen und verstärkt wird.
Struktur eines Rituals
Das Geräusch des Windes, aber auch das Geräusch des Wassers, das immer wieder aus der Bühnen-Tonanlage zu hören ist, und das auch aus einer kleinen Installation auf der Bühne immer weiter tropft, kann als Andeutung auf die vier Elemente gelesen werden, die der Performance von Maria F. Scaroni eine implizite Struktur geben.
Diese Struktur erinnert an ein Ritual: Das erste Kapitel dieses Trauer- und Lebensrituals beschäftigte sich mit dem Element der Erde und der Frage nach Zugehörigkeit und Stabilität. Es ist verbunden mit der Figur des Berges und der Recherche in Beirut, in der wir uns mit Landgewinnungsprojekten aus Müll beschäftigt hatten.
Das zweite Kapitel orientiert sich am Element des Feuers, das in Verbindung zu unserer Recherche zur Ölwirtschaft in Nigeria steht. Es ist zugleich das Kapitel, in dem das Glas zum zentralen Performance-Partner wird. Dabei wechselt Maria immer wieder, in schneller Reihenfolge, zwischen unterschiedlichen Körperzuständen: Weinen und Lachen, Wut und Trauer. Daran schließt ein kurzes Kapitel zum Element des Wassers an, was unterhalb der großen Leinwand und Station zur Recherche in Kreta platziert ist. Mit ihrer fließenden, weichen Stimme praktiziert Maria eine kleine Form der Vergemeinschaftung, indem sie den Text von James Baldwin liest, der wiederum auf die multiplen globalen Verbindungen hinweist, die durch Wasserwege geschaffen werden.
Schlussendlich sind wird nun im Kapitel zum Element der Luft angekommen, in der es um den Austausch von Informationen und um unsichtbare Strukturen geht. Hier wird Maria zum Paket, zur Reisenden in den Glasfaserkabeln. Zugleich webt sie ein feines Netz aus Berührungen und Blicken zwischen den Menschen im Publikum.
Um das Ritual zu beenden, erscheint eine weitere Figur, und Maria spricht einen letzten, höchst ambivalenten Text:
We Move Mountains / Ciccolina
Zunächst kreist die rollschuhlaufende Tänzerin um den zuvor ambivalent und dunkel aufgeladenen Logistik-Altar (der Altar der DJane, der Ort der Steuerungstafel und der Überblicksposition). Bevor sie zu ihrer großen, ironischen Werberede ansetzt, zitiert sie für einen Moment Warm-Up Übungen, wie sie für und mit Arbeiter:innen in Amazon-Verteilerzentren durchgeführt werden. Diese sind auf einem Screen über ihr zu sehen.
An demselben Ort, an dem zuvor ein kleiner Mini-Rave stattgefunden hat und an dem die Glasbüchse der Pandora abgestellt worden war, spricht Maria, noch immer auf Roller-Skates und mit der blonden Perücke, die sie zuvor schon bei ihrem Mini-Rave getragen hat, zuletzt einen Werbetext von Maersk Moller (hier nur als Auszug wiedergegeben). Sie trägt Kopfhörer, so dass sie zugleich ferngesteuert zu sein schein, und rezitiert folgende Sätze:
The world’s population is exploding, along with the demand for food, energy, and millions of other goods. The challenge is to satisfy this mountainous demand whilst leaving the smallest food-print possible. Ironically, the smallest food-print is often made by the biggest shoe. Size and scale are simply too efficient, both for business and the environment. To Maersk, the whole difference is in the details, and this is how Maersk moves mountains.
Size gives flexibility, the flexibility to match the right vessel to the costumers need. The flexibility to redirect cargo while still in transit, without hesitation. Size leads to greater efficiency, too. An expanding fleet is a modern fleet. Maersk Line is the world’s largest shipping company, each day moving mountains of goods from one side of the globe to the other. To Maersk this is obvious: Size matters. Hard proof that big is beautiful.
Um sich zum patriarchalen, sexistischen Unterton dieses Werbetextes zu positionieren, spricht sie ihn zunächst als wäre er sowohl eine pornographische Unterweisung, als auch die Rede einer Vorstandsvorsitzenden an ihre Shareholder. Maria zitiert dabei in ihrem Tonfall, ihrer Körperlichkeit und in ihrem Aussehen die Figur der Ciccolina, eine italienische Softporno-Darstellerin, die zugleich Politikerin war.
Im Laufe ihres Vortrages bricht Marias Stimme immer mehr. Sie wird leiser, nahbarer, verletzlicher. Am Ende ihrer etwa 30-minütigen Solo-Performance entsteht ein spezifisches Bild, das voller Ambivalenzen ist: Spricht hier jemand, der selbst die Kontrolle hat, der Bewegungen steuert und optimiert, oder jemand, der diesem Bewegungsimperativ unterworfen ist? Wie können wir unsere fortlaufende Komplizenschaft in ausbeuterische, neo-koloniale Lieferketten betrauern, wenn sie uns zugleich am Leben erhalten? Wen können wir anklagen, wenn wir selbst beteiligt sind?
Dann verlässt Maria den Raum durch eine große Doppeltür, für einen Moment verlischt das Licht. Ich stelle mir vor: das Orakel hat gesprochen.
Tanz als Orakel
Wenn der Tanz ein Orakel wäre, dann würde er ambivalenten Gefühle hervorrufen. Er würde dem Raum des rationalen Wissens eine affektive Dimension zurückgeben und uns mit der notwendigen Multipolarität des Lebendigen konfrontieren, mit der gefühlten Tatsache und dem empfundenen Sinn, dass Lebendigkeit zugleich Freude und Trauer beinhaltet.
Wenn Tanz ein Orakel wäre, dann würden wir darin nicht die Zukunft lesen, sondern wir könnten etwas darüber lernen, wie wir unsere Gegenwart besser aushielten, wie wir besser leben können mit dem Wissen, dass wir mit unser sozio-technischen Umwelt immer schon verschränkt sind, mit dem Wissen um unsere fundamentale Abhängigkeit von anderen, menschlichen und nicht-menschlichen Körpern.
Wenn der Tanz ein Orakel wäre, dann ließe er sich nicht choreographieren. Vielmehr wäre er der Choreographie der Logistik entgegengesetzt. Wo diese genau vermessene Einzelteile auf vorgegebenen, möglichst effizienten Pfaden transportiert, spräche der Tanz aus der improvisierten Notwendigkeit einer fortlaufenden Verarbeitung und Verdauung unserer eigene Situiertheit heraus. Er würde dann nicht Berge bewegen, sondern die Bewegung der Berge selbst erspüren.