I see these notions, object and material, more as a continuum. They are not so clearly separated. The idea of a continuum allows us to put an emphasis on how things travel between spaces, or how materials are turned into objects. How can things remain in this grey zone, somewhere between the status of bare material and functional object, and what does this grey zone actually allow for?
(Vladimir Miller, Settlement, 2017)

Für die Griechen stellten die kretischen Städte vor 2.000 Jahren eine grundlegende neue räumliche Erfahrung dar. Den Schrecken, den sie dabei empfanden, transformierten sie in ein ästhetisches Spiel. In ein Spiel um Zentralität und Peripherie, Orientierung und Desorientierung; in ein Spiel, in dem jene weit zurückreichende Erfahrung des Vordringens und Verirrens bis in unsere Gegenwart transportiert wurde, dabei unablässig neue Erfahrungen und Vorstellungen an sich bindend.
(Olaf Nicolai/Jan Wenzel, Labyrinth – ein Buch in vier Vorträgen, 2012)

Wie sieht ein Raum aus, der aus einer Aushandlung der Bedürfnisse aller seiner Nutzer*innen hervorgeht, der diesen aber zugleich einen eigene Ausdruck erlaubt? Welche Form der Logistik wird dabei praktiziert?

Artist: Vladimir Miller Location: Hamburg Medium: Szenographie Text: Moritz Frischkorn
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‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Einlass

Als Zuschauer*in betrittst Du den Raum von hinten, durch die Sicherheitsschleuse, die auch dazu dient, alle Aufbauten und Materialien auf die Bühne zu bringen. Zunächst läufst Du vom Foyer durch mehrere Gänge, in denen auch Scheinwerfer und anderes Equipment gelagert werden. Du biegst zweimal nach rechts ab, und durchquerst die große rote Sicherheitstür. Dann bist Du in der Installation angekommen.

Von der Decke hängen gelbe Lastenseile überall im Raum. Sie erinnern an gelben Regen oder eine Strichzeichnung. Vielleicht erinnern sie auch an eine Lagerhalle. Von den gelben Seilen sind verschiedene große Objekte abgehängt, unter anderem Kühlschränke und eine sehr große Plastikplane in der Form eines 20 Fuß-Containers. Zwischen manchen der Seile sind große PVC-Folien gespannt, auf die jemand geschrieben und gezeichnet hat. Irgendwo zwischen den vielen Seilen, den PVC-Karten und verschieden hängenden Objekte und Aufbauten steht ein Pappmaché-Berg.

Sketch für den Pappmaché-Berg, (c) Vladimir Miller
Sketch für die gelbe Seilstruktur, (c) Vladimir Miller

Dieser Raum ist das Ergebnis verschiedener Aushandlungen. Er fungiert zugleich als eine Installation und als Bühnenbild für eine Performance. Er versucht, die Ergebnisse unterschiedlicher Recherchen zum Verhältnis von Logistik und Choreographie zu beherbergen, sie aber zugleich in eine geschlossene Komposition zu fügen. Der Raum wurde vom Szenographen Vladimir Miller entwickelt, der hier seine Methode des Set-Up für eine Performance-Produktion adaptiert hat. Im Folgenden werde einige der Entwicklungsschritte dieses Raums beschrieben:

Grid, Struktur, Hängung

Eine der ersten konzeptuellen Entscheidungen Millers ist der Vorschlag, alle Bühnenelemente zu hängen. Diese Entscheidung, die einen wichtiger Ausgangspunkt für den szenografischen Prozess darstellt, aber am Ende nicht stringent durchgehalten wird, bedarf einer Infrastruktur von oder an der Dinge aufgehangen werden können.

Bereits in der ersten Probenphase experimentieren wir dafür mit unterschiedlich farbigen Gurten, die von einem Rigg an der Decke herunterhängen. Die Gurte funktionieren dabei auf zwei Ebenen: Sie strukturieren den Raum visuell und markieren ihn als einen mathematisch-geometrisch erfassten Raum, insofern sie in regelmäßigen Abständen von der Decke hängen. Zugleich stellen sie eine Form des Gerippes dar, an dem bestimmte Dinge aufgehangen werden können.

‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Dafür stellt Miller im Probenprozess zunächst einfache Materialien zur Verfügung, d.h. Stöcke und Hölzer, Tücher und Platten aus Hartplastik. Diese können als Tische, Display, Projektionsfläche, Schreibunterlage, Raumtrenner, Dämmmaterial, usw. verwendet werden. Die tatsächliche Installation entsteht dabei aus den Bedürfnissen der beteiligten Künstler*innen heraus – eine Methode, die Miller seit vielen Jahren in seiner pädagogisch-szenografischen Praxis Set-Up betreibt.

Set-Up

Set-Up ist die künstlerische Forschungspraxis Millers, wie er sie beispielsweise an der Brüsseler Kunsthochschule a.pass erprobt. Sie zielt darauf ab, Arbeits- und Kunstproduktionsräume als einen kollektiven Verhandlungsprozess zu verstehen. Dabei gelten zunächst zwei einfache Regeln: Es gibt im Raum keine etablierten Protokolle von Besitz. Vielmehr entsteht eine provisorische Form des Besitzes erst aus der wiederholten Nutzung einzelner Materialien, Orte oder Elemente. Der Gebraucht markiert die Dinge als zugehörig zu bestimmten Praktiken und Personen.

Zweitens werden in Set-Up vor allem solche Materialien verwendet, die keine klare Funktionalität aufweisen. Es gibt zum Beispiel keine Stühle und Tische, weil diese, wie alle stark designten Objekte, bestimmte Protokolle von Versammlung bereits in sich tragen. So sind alle Teilnehmer*innen dazu aufgerufen, ihre eigene Praxis an Hand einer Auswahl von ‘einfachen’ Materialien neu zu formulieren.

Dabei wechseln Materialien und Objekte im Prozess der Ausdifferenzierung des Arbeitsraums häufig sowohl Besitzer*in und Funktion. Eine Platte, die heute noch als Tisch dient, kann morgen bereits zum Whiteboard oder zu einer abschüssigen Rutschfläche geworden sein. Es ist, auch in diesem Fall, die Interaktion zwischen Material und Mensch, die entscheidet, welche Affordanz das Material zur Verfügung steht.

Es entsteht eine alternative Form der Logistik, die einzelnen Objekten nicht einfach Funktionen zuschreibt und oder sie möglichst effizient und nach äußerlichen Regeln an einen bestimmten Ort transportiert. Vielmehr ist eine Form der Logistikalität am Werk, in der Menschen und Dinge in einem Verhandlungsprozess aufeinander bezogen sind. Hier werden den Dingen eine gewisse Unbestimmtheit zugestanden wird.

Stationen

Für den gemeinsamen Probenprozess am Great Report wird die Methode des Set-Up angepasst. Zunächst beginnen die beteiligten Künstler*innen, in das vorinstallierte Grid hinein eigene Orte als Repräsentationen der durchgeführten Recherchen zu bauen und gestalten. Gleichzeitig dient der Raum auch als Ort für die Probenarbeit an der Performance ‘Dance as Oracle’ von Maria F. Scaroni. Während des Probenprozesses werden die einzelnen Stationen der jeweiligen Recherchen auf Kreta, in Nigeria und im Libanon dann von den beteiligten Künstler:innen im Gespräch mit Vladimir Miller weiter ausformuliert und bekommen so ein spezifisches Design:

‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
Sketches für Station Kreta, (c) Vladimir Miller

Für die Recherche zu Wasserüberkonsumption und Tourismusindustrie auf der Insel Kreta baut Miller eine Kinoleinwand, die von jeweils zwei quer aufeinander gestapelten Kühlschränken, die neben der Leinwand von der Decke hängen, flankiert und gerahmt wird. Die Kühlschränke werden von innen beleuchtet und dienen als kleine Schreine, in denen Objekte aus der Recherche auf Kreta ausgestellt werden. Sie werden zum Display für die Essenzen und Zutaten des Paradieses.

Für die Recherche in Nigeria baut Miller einen großen Tisch aus Gitterplatten, der an ein Foto-Entwicklungslabor erinnern. Auf einem langen Tisch nach vorne hin werden Dokumente ausgestellt, welche aufdecken, mit welchen Kosten und welcher Organisationsarbeit die Recherche im Nigerdelta verbunden war. Dabei wird vor allem der Umweltaktivist Fyneface Dumnamene Fyneface als Protagonist und Hobbyfotograph hervorgehoben. Dahinter stehen auf mehreren Gitterböden schwarze Fotowannen, in denen Abzüge der Bilder von Robin Hinsch scheinbar zum Entwickeln liegen. Zuletzt sind an die Gittertische mehrere Fahnenstangen angebracht, von denen drei Bilder aus Nigeria als große Fahnen hängen.

Sketches für Station Nigeria, (c) Vladimir Miller
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Und für die Soundarbeit der Künstlerin Nour Sokhon zu Landgewinnung durch Müll im Libanon baut Miller eine Hörstation: Dafür wird eine große Plastikfolie, die normalerweise zur Innenauskleidung eines 20 Fuß-Containers dient, halbiert und von der Decke gehangen, so dass sie von unten begehbar ist und man in ihr stehen kann. Innen ist sie mit Hanf ausgekleidet, damit der hier abgespielte Sound ein wenig gedämpft wird. Zugleich duftet das Innere des Containers dabei nach pflanzlichen Prozessen der Vermoderung.

Sketches für Station Beirut, (c) Vladimir Miller
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Materialien

Alle verwendeten Materialien im Raum erinnern von ihrer Materialästhetik und Funktionalität an das Arbeitsfeld der Logistik. Zunächst verweisen die gelben Lastengurte auf den Prozess der Sicherung und Vertäuung von Gütern. Mit der großen weißen Plastikfolie ist zugleich die Form des Schifffahrtscontainers präsent, der als zentrales Medium moderner Logistik und globaler Lieferketten gelten kann.

Die Metallelemente des Gittertisches, auf denen die fotografische Arbeit von Robin Hinsch ausgestellt ist, erinnern an Schwerlastregale. Elemente von Schwerlastregalen sind außerdem als kleine Tische an mehreren Stellen im Raum präsent, auf denen weitere Recherchestränge durch Objekte und mit Hilfe von Sound präsent gemacht werden.

‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Die hängenden Kühlschränke verweisen auf das Arbeitsfeld der Gebrauchtwaren-Logistik, zu dem wir in Nigeria recherchiert haben, und das in Hamburg vor allem in der Billstraße präsent ist. In einer Ecke des Raumes hängt außerdem eine Autokonsole neben einem weiteren großformatigen, auf Folienstoff gedruckten Bildes des Autos, mit dem Robin und ich in Lagos unsere Recherche unternommen haben.

So erscheint der Raum auf einer möglichen Lektüreebene als ein dysfunktionales Verteilerzentrum, als ein Ort an dem – im Falle der Performance – Informationen neu verpackt und damit für unterschiedliche Zuschauer*innen zugänglich gemacht werden. Insofern dieser Ort kein Arbeitsort mehr ist, sondern als Display für unsere Recherchen dient, kommt ihm auch eine verlassene, fast schon nostalgische Qualität zu. Diese wird durch die Präsenz der verschleierten Performerin, als die Maria F. Scaroni auftritt, noch verstärkt.

Ein hängendes Labyrinth

Das letzte zentrale Bühnenelement sind unterschiedliche Karten und Zeichnungen, die an den gelben Gurten angebracht sind. Die Zeichnungen sind mit dicken Markern auf durchsichtige PVC-Folien gezeichnet, so dass sie teilweise transparent erscheinen und, abhängig von den Lichtverhältnissen, unterschiedlich gut gelesen werden können.

Zunächst erzeugen die quer im Raum hängenden Kartenelemente den Eindruck eines verzweigten Wegleitsystems, dass nur noch fragmentarisch lesbar ist. Sie kreieren Diagonalen, schaffen kleine Durchgänge und trennen schmale Teilbereiche vom Rest der Bühne ab. Dabei mag das Erlebnis der Erkundung des Raums an ein Labyrinth erinnern.

Das Labyrinth, dessen Ursprung auf der Insel Kreta verortet wird, kann unterschiedlich gedeutet werden. Es verweist einerseits auf eine bestimmte Form des Kreistanzes, es ist zugleich der Ort, an dem der Minotaurus gefangen gehalten wird. Es mag aber auch als Metapher für ein frühes schockhaftes Erleben von Urbanität gedeutet werden. Für die Griechen der Frühantike stellten die minoische Stadt von Knossos ein unmöglich zu entzifferndes Gewirr aus mehrstöckigen Häusern und Gassen dar.

‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch

Damit verweist das Labyrinth indirekt auch auf meine eigene Erfahrung der Arbeit am Great Report. Während ich, gemeinsam mit den beteiligten Künstler*innen, versucht habe, einigen zentralen Materialien – dem Wasser, dem Müll und dem Öl – an unterschiedliche Orte zu folgen, um dort etwas über die eigene Verstricktheit in logistische Prozess und globale Lieferketten aufzudecken, produziert das Projekt über seine Dauer hinweg zunehmend Gefühle der Desorientierung und Ohnmacht.

Die Unmöglichkeit, die Komplexität spezifischer Kontexte angemessen darzustellen, die Vielfältigkeit ihrer Verbindungen zueinander abzubilden, damit die Verwicklung und Verstrickung meiner eigenen Position mit anderen Orten auf dem Planeten abzubilden, wird damit räumlich erfahrbar. Objekte, Schrift, Bild und Bewegung überlagern sich. Zusätzlich werden sie hier mit einer Ebene der Beschreibung vermischt.

In der Luft hängen

Vielleicht bleibt auch meine eigene Position als Initiator des Projektes und als künstlerischer Forscher, der im Great Report versucht, Aspekte der eigenen Verstricktheit in globale Lieferketten aufzudecken und zu erzählen, sprichwörtlich in der Luft hängen. Die Choreographie der Informationen, die in diesem Projekt miteinander verbunden und narrativ aufgearbeitet werden, braucht emotionale Arbeit, um sie wieder mit dem konkreten Ort, an dem sie ausgestellt werden, in Kontakt treten zu lassen.

Insofern spricht der von Miller inszenierte Raum von der Frage: Im Angesicht der weit verzweigten Choreographie der Logistik, die scheinbar mühelos und scheinbar gegen die Gesetze der Reibung und Schwerkaft, Dinge, Objekte und Menschen rund um den Planeten schickt, wie kann eine Praxis aussehen, die versucht, ihre eigenen Standpunkt zugleich zu reflektieren, ohne ihn dabei als zentralen Referenzpunkt zu verstehen?

‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
Sketch für den Pappmaché-Berg, (c) Vladimir Miller
Sketch für die gelbe Seilstruktur, (c) Vladimir Miller
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
Sketches für Station Kreta, (c) Vladimir Miller
Sketches für Station Nigeria, (c) Vladimir Miller
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
Sketches für Station Beirut, (c) Vladimir Miller
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
‘The Great Report’, Jan 2020, Kampnagel Hamburg, (c) Robin Hinsch
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