Erdöl fließt zwischen zwei Wassern in dicken Rohren, die sich winden wie Meeresschlangen, die einzigen echten, die es gibt. Es speist die Tanks der Schiffe. Aden war vor nicht allzu langer Zeit eine Bunkerstation; die Heizölkessel haben dann die schwarzen Behälter der Anglo-Persian und der Asiatic Petroleum Company, die Büros, die Docks und die Intrigen nach sich gezogen. All das hat die kleinen eingeborenen Stammesfürsten aus dem Gleichgewicht gebracht und sie zu Ölhändlern und Benzinkäufern werden lassen. Fast überall tobt der Kleinkrieg um Konzessionen. So paßt sich Aden seinem Schicksal an. (…) Die Staatsräson billigt jede Machenschaft, jeden Vertrag, jede Unterdrückung, jede Sklaverei, wenn sie nur Profit bringt. Aber was sagt die Räson dazu, die nicht im Dienste des Staates steht?
(Paul Nizan, Aden, 1960)

The byzantine promises of modern transcendence that are ennobled in your exile from ‘nature’, in the big ‘G’ god you ordained to sit outside and above this fragile material realm of things, and in your insistence that you are at the centre of the universe (and can, as such, unilaterally tell a new story about the world), have been postponed indefinitely. With every new account of an oil spill, or of a dolphin struggling on the shore to deliver itself of plastic shrapnel gestating within her stomach, or of a suicide victim whose bank account was richer than ‘third world nations’, or of a politics that feels more beholden to the whims and fancy of giant corporations than to real public concerns, you feel there is something not quite right with this particular configuration of things. And so you my white friends, orphans of a crowded sky, are seeking–like I am–a way to reclaim your place on earth.
(Adebayo Akómoláfé, Dear White People, 2016)

Wie kommen Altwaren nach Nigeria? Wer stiehlt dort wem das Öl? Und welche Strategien nutzen Menschen, die von wirtschaftlichem Fortschritt strukturell ausgeschlossen sind, um zu sich in Wertschöpfungsketten hinein zu hacken?

Artist: Robin Hinsch Location: Lagos/Port Harcourt, Nigeria Medium: Fotografie Text: Moritz Frischkorn
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‘Wahala’, (c) Robin Hinsch

Ankunft

Es ist früher Morgen, als wir in Lagos landen. Abdul und Raf haben im Auto geschlafen. Der Verkehr in Lagos ist unmöglich vorherzusagen, deshalb sind sie schon am Vorabend zum Flughafen gefahren. Bevor wir losfahren, rauchen Robin und ich. Damit der Parkwächter uns in Ruhe lässt, muss Abdul ihm einen Geldschein zustecken.

Die hier beschriebene Recherche haben der Fotograf Robin Hinsch und ich gemeinsam im Juli 2019 durchgeführt. Fotografien von Hinsch begleiten diesen Text.

Abdul ist groß und schlaksig. Seine lange Arme schwingen beim Gehen wie Pendel und seine Unterarme kreisen wie Windmühlen vor seinem Körper, wenn er gestikuliert. Mit tiefer, singender Stimme wird er uns in den nächsten Tagen erläutern, wo genau wird sind und was wir aus dem Autofenster alles sehen. Do you understand the environment?, fragt er uns dann verschmitzt. Es ist eine rhetorische Frage.

Rafil ist kleiner und ein bisschen schmächtiger, er hat oft ein zartes Lächeln auf den Lippen, auch wenn Abdul ihn zurechtweist, weil er sich verfahren hat. Später wird Rafil, wenn wir im Gewirr der Märkte verloren zu gehen drohen, mich manchmal an die Hand nehmen. Er umfasst sie dann nicht ganz, sondern verkreuzt seine und meine Hand Finger für Finger.

Rafils Lieblingslied, dass wir im Auto rauf und runter hören, heißt Shy von D'Banj. Mein nigerianisches Lied ist dieses hier.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Es fühlt sich gut an, dass jemand uns abholt. Während wir auf der Third Mainland Bridge, die am Festland vorbei über dem Was­ser der Lagune Richtung Lagos Island führt, durch einen diesigen Sonnenaufgang fahren, sehe ich die auf dem Wasser gebauten Hütten von Makoko und Bariga, und frage mich, wem sie Schutz bieten. Durch die Windschutzscheibe kann ich im Hintergrund die Hochhäuser der Innenstadt und Eko Atlantic City erkennen. Das Auto, jedenfalls, in dem wir fahren, wurde per Containerschiff aus Hamburg nach Nigeria verladen. Und Abdul ist Daniels Bruder.

Daniel

Daniel kenne ich aus dem African Terminal. Er ist in hier in Lagos geboren und aufgewachsen. 2013 ist er über das Mittelmeer nach Europa geflohen und auf der Insel Lampedusa gelandet. Seit mehreren Jahren lebt er in Hamburg, muss aber weiterhin um sein Bleiberecht kämpfen.

Daniel hat mir beigebracht hat, wie man Container packt, und welche Dinge man in Westafrika zu Geld machen kann. Wie viele Geflüchtete hat Daniel keine Arbeitserlaubnis. Er ist deshalb gezwungen, illegale Arbeiten anzunehmen, in Restaurants oder am Flughafen. Seine wichtigste Tätigkeit aber ist der Handel mit Gebrauchtwaren. Daniel ist Trader. Er kauft und sucht Dinge, die in Europa nichts mehr oder wenig wert sind, und verschifft sie nach Nigeria, weil sie hier repariert und weiter verkauft werden können.

Auch das Auto, mit dem wir jetzt durch Lagos fahren, hat Daniel verschifft. Er hat es in Osteuropa gekauft, mit allerlei Altwaren gefüllt und in einem Container aus Hamburg nach Lagos transportieren lassen. Neben dem Auto enthielt die Sendung auch Flachbildschirme, Altreifen, Elektrowaren, Kleidung, Matratzen, Geschirr, und Möbel. Seit den 80er-Jahren landen Dinge, die im Westen als Müll deklariert werden, in Nigeria, wo sie ein zweites Leben bekommen.

Wie der stetige Strom von rohen Erden, die in unseren Mobiltelefonen verbaut sind, verbindet auch der Fluss dieser Altwaren Europa und Westafrika, ohne dass wir uns dessen unmittelbar bewusst sind. Robin und ich reisen ihnen hinterher, um etwas darüber herauszufinden, wo sie landen und wer von ihnen profitiert.

Wer wissen will, wo Alt- und Neuwaren in Nigeria ankommen, der fährt am besten nach Tin Can Island.

Tin Can Island

Tin Can Island ist der größte Hafen Nigerias. Der Name der Insel stammt aus dem 19. Jahrhundert, als vorbeifahrende Schiffe ihre Post einfach in Blechdosen ins Wasser warfen, wo sie von starken Schwimmern aufgegriffen und an Land gebracht wurden.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Die Autofahrt nach Tin Can Island ist abenteuerlich. Während der Hafen seit 2006 von privaten Betreibern bewirtschaftet wird, sind die einzige Zu-und Abfahrtsstraße, welche die Insel mit dem Festland verbinden, in einem nur schlecht befahrbaren Zustand. Es bilden sich deshalb große Staus, in denen Trucks bis zu einem Monat warten müssen, um ihre Fracht abzuladen und neue aufzunehmen. Um die wartenden LKWs zu passieren, müssen wir in halsbrecherischen Manövern immer wieder auf die Gegenfahrbahn ausweichen.

Der Wirtschaftsjournalist Paul Loomis schreibt, der Stau rund um Tin Can Island sei der gravierendste logistische Engpass des gesamten afrikanischen Kontinents. Abdul kommentiert die Zustände auf Tin Can Island anders. Er sagt: All men in this country are comedians. That's the way it is.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Um die kaputten Zu- und Abfahrtsstraßen herum hat sich eine informelle Ökonomie gebildet. Lkw-Fahrer schlafen unter ihren Trucks. Hier gibt es Frisöre, Bistros und Straßenverkauf. Kleinkriminelle Gangs kontrollieren die Brücken und verlangen von den passierenden Trucks eine kleine Pauschale. Junge Männer verkaufen Diesel oder Benzin in Plastikflaschen, damit die Gebrauchtwagen, deren Tank für die Passage auf einem Containerschiff geleert wurde, aus dem Hafen herausgefahren werden können.

Es ist eine lebhafte und dunkle Szenerie, immer wieder kommt es zu verbalen Auseinandersetzungen, aber gleichzeitig wird viel gelacht. Während wir durch die informellen Märkte von Tin Can Island laufen, lassen uns Abdul und Rafil nicht eine Sekunde aus den Augen. Offensichtlich sind wir Fremdkörper, die sich nicht auskennen und beschützt werden müssen. Unser Wissen über diesen Ort ist nur theoretisch, es stammt aus der Literatur:

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

The Hole of Onitsha

In seinem Text The Hole of Onitsha aus dem Band The Shadow of the Sun beschreibt Ryszard Kapuscinski eine Reise in den Südwesten Nigerias. Irgendwann, kurz vor Onitsha, stecken sein Fahrer und er in einem ähnlich großen Stau wie wir ihn in Tin Can Island erlebt haben. Als er an den wartenden Autos vorbei nach vorne läuft, erkennt er den Grund für die enorme Verstopfung. Es ist ein großes Bodenloch, aus dem gerade ein Truck mit Seilen und viel Muskelkraft befreit wird. Danach fährt der nächste LKW vor, fällt ins Loch, und muss wiederum von Männern und Frauen aus dem nahegelegenen Dorf herausgezogen werden. Die Aktion wiederholt sich, so dass kein rechtes Vorankommen ist. Auch um diese Szenerie herum hat sich ein kleiner Markt gebildet. Das Schlagloch, der Fluch der Reisenden nach Onitsha, eröffnet der lokalen Bevölkerung eine Einkommensquelle. Für eine lange Weile erlaubt sie deshalb nicht, dass es zugeschüttet wird.

Nicht nur Trucks stauen sich in Lagos oder Onitsha, auch große Containerschiffe stauen sich vor der Küste von Lagos, weil ihre Abfertigung im Hafen zu lange dauert.

Die schlechte Infrastruktur, das Loch in der Straße, produziert einen Absatzmarkt. So, oder so ähnlich, ist es heute in Nigeria in vielen Fällen, sowohl lokal als auch auch auf nationaler Ebene. In vielen Landesteilen gibt es keine Elektrizität und kaum fließendes Wasser, auch in Lagos fällt der Strom immer wieder aus oder ist rationiert, und die Wasserversorgung schlecht. Die Menschen sind deshalb gezwungen, private Brunnen zu bauen. Für die Stromerzeugung werden Generatoren genutzt. Hier wie dort verdienen private Großhändler daran, Maschinen zu verkaufen, die die Bevölkerung sonst gar nicht bräuchte.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Man kann diese Form der mangelhaften Infrastruktur und fehlender wirtschaftlicher Diversifikation, an der wenige, reiche Geschäftsleute und Politiker*innen verdienen, als eine Form von Manufactured Collapse bezeichnen. Wo aber die politische Elite häufig korrupt ist und vor allem informelle Normen das Gemeinwesen stützen, wird Diebstahl zur Regel, oft mit katastrophalen Konsequenzen. Im Besonderen lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von mangelnder Infrastruktur, Privatisierung von Ressourcen, und dem kolonialem Erbe Nigerias im Bereich des Ölhandels beobachten und analysieren.

Zunächst fallen Robin und mir die gestrandeten Tanker auf, die im Hafenbecken von Tin Can Island und den umgebenden Gewässern scheinbar ungenutzt herumliegen.

Wracks, Geisterschiffe und getürmte Kapitäne

Der Hafen von Tin Can Island liegt westlich von Lagos Island – dem historischen, ehemals kolonialen Zentrum von Lagos – an einem Seitenarm der Lagune, der durch vorgelagerte Halbinseln und Inseln vom Atlantik getrennt ist. Gemeinsam mit der Journalistin Nenna Obibuaku fahren wir in diese Seitenarme der Lagune hinein, zunächst am Hafen vorbei und Richtung Snake Island.

Gemeinsam mit der Journalistin Nenna Obibuako besuchen wir auch den Ort Ijegun, wo sich etwa zwei Wochen vor unserer Ankunft eine große Ölexplosion ereignet hat. Nachts waren Diebe mit vier großen Trucks angerückt und hatten eine unterirdische Pipeline aufgeschweißt. Als sie von der Polizei erwischt wurden, setzten die Diebe das aus den Leitungen austretende Öl selbst in Brand, um zu fliehen. Einer ihrer Trucks explodierte sofort, er ist immer noch an der Unfallstelle zu sehen. In einem Akt performativer Namensgebung wird die Kreuzung, an der sich der Unfall ereignet, von der lokalen Bevölkerung heute einfach Fire Junction genannt. Wir folgen den Feuerspuren, die sich ein Gatter und dann den Berg hinunter ziehen. Auf einer Wiese, wo der Abwasser-Kanal endet, erzählt uns Charles, ein junger Mann, dem eines der Häuser gehörte, die an die Wiese angrenzen, von der Unfallnacht: Ein Teil des Öls, dass sich nicht entzündet hatte, war dorthin den Berg herab gelaufen, und wir von einem in seinem Auto fliehenden Mann erneut in Brand gesetzt. Erneut sterben dabei mehrere Menschen. Dabei kommen eine Reihe von Umständen – persönliches Fehlverhalten, fehlende Elektrizität, mangelnde Abwasserkanäle, der Vandalismus an der Pipeline selbst, strukturelle Abhängigkeit der nigerianischen Wirtschaft von Ölexporten, post-koloniale Verwaltungsstrukturen, die Korruption der politischen Elite, usw. – zusammen, die zu diesem zweiten Unfall führen. Fire Junction ist ein Bild dafür, dass die Verantwortung für den fortlaufenden Diebstahl von Gemeingütern und die daraus resultierenden Folgen nicht einfach zu ermitteln ist.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Würden wir weiter Richtung Westen durch die Seitenarme der Lagune entlang fahren, kämen wir nach circa 50 km in dem kleinen Dorf Badagry an. Auf der dem Dorf gegenüberliegenden Gberefu Insel steht ein Steinstele und ein kleines Museum, das daran erinnert, dass seit dem 15. und bis ins 18. Jahrhundert von hier aus Sklaven in die Karibik und nach Süd- und Nordamerika verschifft wurden. Wer den sogenannten point of no return passierte, der musste alles aufgeben und wurde fortan als bloße Ware betrachtet. Der Stein erinnert daran, dass in Nigeria jahrhundertelang nicht vornehmlich Öl, sondern Menschenleben gestohlen wurden.

Vor Tin Can Island aber zeigt uns Nnenna die Wracks von kleinen und mittelgroßen Tankern, die hier überall im Wasser liegen. Sie geht davon aus, dass auf diesen nicht mehr fahrtüchtigen Schiffen gestohlenes Öl und Diesel gebunkert wird, das nachts an umliegende Tankstellen weiterverteilt wird. Am Tawrka Beach, gegenüber der neu aufgeschütteten Eko Atlantic City, sprechen wir mit einigen Männern, die hier Fisch und gerösteten Mais verkaufen, und von den Bunker-Aktivitäten zu wissen scheinen, davon aber nicht weiter berichten wollen. Von hier aus, direkt an der Atlantikküste kann man den gigantischen Stau von Containerschiffen sehen, der sich an der Küste entlang zieht.

Am Nachmittag nimmt die nigerianische Navy Robin und mich direkt vor Tawrka Bay auf einem Schnellboot zu einem kleineren Tanker mit, der Rohöl geladen hat, aber keine offiziellen Papiere für die Ladung vorlegen kann. Der Kapitän und einige Offizier sind schwimmend geflüchtet, als die Navy das Boot festsetzt, der erste Offizier und die Schiffspapiere werden an Land befragt.

An Bord sind nur noch einige Maschinisten und der Koch. Auf dem Bug des Navy-Bootes stehend, frage ich die Besatzung über die Wellen des Atlantiks hinweg nach ihrer Reiseroute. Sie behaupten, dass sie ihre nicht dokumentierte Fracht aus dem östlich gelegen Kamerun nach Lomé, das westlich von Nigeria liegt, überführen wollten. Der Chef des Navy-Schiffes und die versammelten Reporter des Nigerianischen Finanzbehörde lachen nur. Niemand glaubt den verbliebenen Crewmitgliedern. Alle gehen davon aus, dass das gestohlene Öl aus dem Niger Delta stammt und illegal außer Landes geschafft werden sollte.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Niger Delta

Das Niger Delta ist ein etwa 70.000 m² großes fruchtbares Biotop von Mangrovensümpfen an der Mündung des Niger in den Atlantik. Unter dem grünen, dichten Wald, der sich um die Mangroven herum ausbreitet, liegen die Ölvorräte Nigerias. Es wird geschätzt, dass dort noch immer 35 Millionen Barrel Öl liegen. Das Öl im Delta wurden ursprünglich von der britischen Kolonialmacht entdeckt. 1938 wird dem damals staatlichen Unternehmen ‘Shell D'Arcy’ das Monopol über jegliche Ausbeutung des Rohstoffes zugesprochen. Seit 1956 wird im Delta industriell Rohöl gefördert und exportiert. Dabei wurde das Land, auf dem Bohrungen stattfinden, der lokalen Bevölkerung oft einfach entrissen oder zu Spottpreisen abkauft. Auch nach der Unabhängigkeit Nigerias 1960 ist das Land für die Förderung der wertvollen Ressource auf die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen angewiesen. Heute operieren im Delta neben Shell auch ExxonMobil, Chevron, Total und Eni gemeinsam mit der Nigerianischen Regierung.

Öl wird im Niger Delta an etwa 5000 kleinen, oft unbewachten Bohrköpfen gewonnen. Um den so gewonnen Rohstoff zu bündeln und zu verschiffen, führen mehr als 7000 km Rohre durch das Delta. Viele dieser Leitungen sind alt und marode. Immer wieder tritt deshalb im großen Stil Öl aus und verunreinigt die Mangroven. In den letzten 50 Jahren sind nach Schätzung von Expert*innen etwa 2 Millionen Tonnen Rohöl ins das Ökosystem gelangt. 2011 hat die UN einen Report über die Verschmutzung des Ogonilands – eines stark verschmutzen Abschnitts im Osten des Deltas – publiziert. Dabei macht sie durchgehend die großen westlichen Ölfirmen, allen voran Shell, für die Säuberung des Deltas verantwortlich. Wissenschaftler*innen schätzen, dass die Reinigung des Deltas mindestens 30 Jahre dauern wird.

Bekannt geworden ist beispielsweise eine große Ölkatastrophe nahe des Dorfes Bodo, im Osten des Deltas, bei der 2008 und 2009 große Mengen Rohöl aufgetreten sind. Zum ersten Mal hat hier eine lokale Community substantielle Entschädigungen bekommen. In einer außergerichtlichen Einigung in Den Haag hat sich Shell zu einer Zahlung von 55 Mio. Dollar bereit erklärt.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Durch die Zerstörung ihrer Umwelt wurde die Lebensgrundlage der meisten Menschen nachhaltig zerstört, sie können weder Fischen noch Landwirtschaft betreiben. Es gibt keine funktionierende Infrastruktur, keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, zum Teil keine Schulen und Krankenhäuser. Viele Jugendliche im Delta sind arbeitslos. Auch deshalb ist das gesamte Niger Delta bis heute von bewaffneten sozialen und politischen Konflikten gezeichnet. Seit der Unabhängigkeit Nigerias im Jahr 1960 suchen lokale Milizen immer wieder den Konflikt mit der Zentralregierung und den internationalen Ölproduzenten. Dabei geht es sowohl um Umwelt- und Verteilungsgerechtigkeit, als auch um Geld und Einfluß.

Die größte Stadt des Delta ist Port Harcourt. Hierhin fliegen Robin und ich für fünf Tage, um mehr über das Geschäft mit Öl und seine sozialen und ökologischen Kosten zu erfahren. Am Flughafen werden wir von von Fyneface abgeholt.

Fyneface Dumnamene Fyneface

Fyneface Dumnamene Fyneface ist Umweltaktivist und Journalist. Um seiner aktivistischen Arbeit einen Rahmen zu geben, betreibt er eine eigene NGO, das Youth and Environmental Advocacy Center, die sich vornehmlich um Umweltthemen und die Position von Jugendlichen im konfliktreichen Delta kümmert. Fyneface versteht sich selbst als Nachfolger von Ken Saro Wiwa, einem bekannten Ogoni-Aktivisten, der 1995 gemeinsam mit acht anderen Aktivisten vom damaligen Militärdiktator Sani Abacha ermordet wurde.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Fyneface holt uns in einem LEXUS SUV mit verdunkelten Scheiben am Flughafen ab. Als Weiße gelten wir im Niger Delta als gefährdet, weil wir potentielle Opfer einer Entführung darstellen. In den nächsten Tagen wird Fyneface uns nur zum Schlafen im Hotel alleine lassen. Gemeinsam mit ihm haben wir einen Rechercheplan entwickelt, er kümmert sich um die Organisation und unsere Sicherheit. Dafür bezahlen wir ihn. Wir haben Fyneface angeschrieben, weil er mit Menschen arbeitet, die an der illegalen Raffinerie von Öl beteiligt sind und waren. Seit Jahren organisiert er das Niger Delta Ex-Artisanal Refiners’ Forum (NDERF).

Während unser gesamten Recherche im Niger Delta geraten wir in keine Situation, die sich aus subjektiver Perspektive gefährlich anfühlt. Weil aber im Delta in der Vergangenheit immer wieder vor allem weiße Mitarbeiter*innen von Ölfirmen entführt wurden, sind besondere Vorsichtsmaßnahmen notwendig. So werden wir auf Fahrten außerhalb der Stadt Port Harcourt von einem oder z.T. zwei mobilen Polizisten begleitet. Während wir also strukturell abhängig von Fyneface sind, zeigt sich dieser als umsichtiger und erfahrener Gastgeber. Auf der Fahrt in die Stadt kündigt er uns schon einmal an, dass wir am letzten Abend bei seiner Familie zum Essen eingeladen sind.

Artisanal Refinery

Wie u.a. auch in Mexiko wird in Nigeria aber nicht nur Öl gestohlen, es wird auch illegal raffiniert. Die Klein-Raffinerien, die im Jargon des Deltas artisanal refineries heißen, sind heute einer der wenigen noch florierenden Wirtschaftszweige. Das Business ist gut organisiert. Öl wird entweder an den Verladehäfen, oder direkt aus den Leitungen abgezapft. In Holzbooten wird es dann an abgelegene Orte im Delta transportiert und in provisorischen Stahlkesseln hoch erhitzt, so dass sich durch Destillation die unterschiedlichen Bestandteile des Öls voneinander absetzen.

Überfahrt zur illegalen Raffinerie bei Bodo, Ogoniland, Nigeria

Die Tätigkeit der illegalen Raffinerie ist hoch gefährlich. In den Destillen wird ohne Schutzkleidung gearbeitet, immer wieder kommt es zu Explosionen, bei denen Menschen verletzt werden oder sterben. Trotzdem nehmen viele junge Menschen Jobs in diesem Gewerbe an. Erträge werde dabei nicht nur in der Raffinerie selbst gemacht, sondern auch im Transport des illegal raffinierten Öls und in seinem lokalen Verkauf. Hier sind besonders auch Frauen beteiligt.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Um eine illegale Raffinerie besuchen zu können, bedarf es ausführlicher Sicherheitsvorkehrungen. Es müssen Jugendbanden bestochen werden, der Transport organisiert werden. Vor allem müssen auch die lokalen Chiefs von unserer Recherche informiert werden. Bevor wir die Raffinerie besuchen, statten wir deshalb Chief Damian Vidag-Kobani einen Besuch ab.

Ogoni Blessings

Damian Vidag-Kobani ist eine beeindruckende Gestalt – schwer, groß und ernst. Er trägt ein traditionelles nigerianisches Gewand in dunklen Farben. Er ist Chief der Gemeinde von Goi. Wir treffen ihn in seinem Exil in Bodo, von wo aus wir später in den Mangrovenwald hineinfahren wollen. Der Raum ist nicht sehr groß, sauber und aufgeräumt, es stehen einige Plastikstühle und ein Sofa darin. Auf dem kleinen Tisch vor den Füßen des Chiefs sind Gläser und eine Flasche des lokalen Gin platziert.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Der Blick des Chiefs ist undurchschaubar, fast abweisend. Der Tradition entsprechend öffnet er die Flasche Gin und schüttet den ersten, großen Schluck in ein Whiskeyglas. Niemand spricht. Er erhebt sich, geht zur Tür der kleinen Hütte, lässt vorsichtig einige Tropfen aus dem Glas an die Holztür und auf den Boden tropfen und murmelt Worte im lokalen Dialekt der Ogoni.

Er bittet um eine sichere Passage auf dem Wasser für die weißen Gäste. Nachdem er seine Blessings gesprochen hat, hellt sich sein Gesicht auf. Der Reihe nach, vom Ältesten zum Jüngsten, trinken wir jeder ein Glas Whiskey, den wir ihm als Gastgeschenk mitgebracht haben. Der Chief begrüßt uns mit einer sonoren Stimme, die aus der Tiefe seines enormen Bauches zu kommen scheint. Er ist einverstanden, dass wir die Öl-Destille besuchen, wir sind bereit für unsere Tour. Um für unsere sichere Überfahrt zu bitten, hat Chief Damian mit seinen Vorfahren gesprochen. Dafür bedarf es des lokal gebrauten Gins, der Kai Kai heißt. Er ist grünlich und mit Kräutern des Deltas versetzt.

Kai Kai

Gemeinsam mit Fyneface besuchen wir auch eine lokale Gin-Destille, in der Kai Kai hergestellt wird. Die lokale Produktion von Gin wird schon seit der Zeit vor der Kolonisierung Nigerias durch die Engländer betrieben, die diese als Kolonialherren umgehend verbieten, um ihre eigenen Alkoholika zu verkaufen. Aus Palmwein wird dabei ein hoch-prozentiger Alkohol hergestellt. Fyneface erzählt uns, dass die Produktion von Gin als Modell der illegalen Raffinerie von Rohöl gilt. Beide funktionieren nach demselben Prinzip:

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Die Flüssigkeit wird in einem Kessel, unter dem ein Feuer angezündet wird, erhitzt. Auf Grund des unterschiedlichen Kondensations-Punktes verdampfen zunächst die edlen und leichten Bestandteile der Flüssigkeit. In ihrer gasförmigen Form werden sie durch ein kaltes Wasserbecken geleitet, so dass die Bestandteile wieder kondensieren und flüssig werden. Am Ende eines Metallrohres können dann die getrennten Bestandteile Tropfen für Tropfen aufgefangen werden.

Im Fall der Destillation von Benzin wird so erst Diesel aufgefangen, später Benzin und schließlich Kerosin und Schweröl. Die besonders schweren Bestandteile des Rohöls, die Schiffs-Treibstoff gleichen und stark schwefelhaltig sind, werden einfach in die umliegenden Gewässer abgeleitet. Als wir die Rohöl-Destille besuchen liegt sie verlassen und ausgestorben da – gearbeitet wird nur nachts. Der Boden ist schwarz von den eingesickerten Rückständen, die Kessel zur Destillation gleichen rätselhaften Monumente der fehlenden Klimagerechtigkeit und der Jahrhunderte alten kolonialen Gewalt.

Im Fall der Destillation von Palmwein wird die gewonnen Flüssigkeit ein zweites Mal destilliert, bis sie ganz klar und durchsichtig ist. Wir bekommen sie in einem kleinen Becher gereicht, und dürfen den noch warmen Kai Kai probieren. Er schmeckt nach Wärme und Schutz, nach der Sicherheit und dem Vertrauen, für das wir viel Geld bezahlt haben.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Die Menschen, die in der illegalen Raffinerie von Rohöl oder Gin tätig sind, weisen uns immer wieder darauf hin, dass ihnen kein anderer Ausweg zum Überleben bleibt. Vor allem aber weisen sie auf die enormen Ungerechtigkeiten im Ölhandel hin, und auf die Tatsache, dass auch im Nigerdelta nicht nur für den lokalen Bedarf, sondern in viel größerem Stil Öl geklaut wird.

Publish What You Pump

Studien gehen davon aus, dass in Nigeria etwa 100.000 Fässer Rohöl pro Tag in den Schwarzmarkt hinein verschwinden. Fast 30 Prozent aller raffinierten Ölprodukte aus Nigeria werden ins Ausland geschmuggelt. Wer aber verdient an all dem gestohlenen Öl? Der Aktivist Kentebe Ebiaridor von Environmental Right Action erzählt uns, dass niemand – aber auch wirklich niemand – genau weiß, wieviel Rohöl in Nigeria tatsächlich gefördert wird. Weder an den einzelnen Bohrköpfen, noch an den Verladehäfen im Delta, wo das Öl das Land Richtung Rotterdam oder USA verlässt, wird gemessen, wieviel Öl tatsächlich fließt.

Als der Norwegische Botschafter kürzlich vorgeschlagen habe, die relevanten Anlagen mit Messinstrumenten auszustatten, hätte die Regierung abgelehnt, sagt Kentebe. Dabei könnten doch westlichen Ölfrmen offensichtlich mehr Öl mitnehmen, als sie angeben. Den Diebstahl beweisen, das könne ihnen im Moment niemand. Publish What you Pump, heißt die Kampagne die Kentebe deshalb mitentwickelt hat.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Hier wird Diebstahl auf großem Niveau sichtbar. Nicht nur die westlichen Ölfirmen bestehlen das Land, auch die wichtigen Politiker und Industriellen des Landes versuchen sich zu bereichern. In großem Stil wird an den Verladehäfen im Niger Delta, auf Bonny Island oder in Esclavos, Öl auf kleinere Tanker umgeladen, dass dann heimlich das Land verlassen soll. Deshalb wehrt sich die nigerianische Politik gemeinsam mit den kooperierenden westlichen Öl-Firmen gegen transparente Messungen. Für die Probleme des Deltas aber wird immer wieder die lokale Bevölkerung beschuldigt.

No Refinery Not Yet

Es steht außer Frage, dass die illegale Raffinerie zur fortlaufenden Verschmutzung des Deltas beiträgt, weil dafür immer wieder Pipelines angebohrt werden und Öl in den Mangrovensumpf austritt. Neben anderen Aktivisten weist deshalb unter anderem Fyneface immer wieder darauf hin, dass der illegalen Raffinerie erst dann beizukommen sei, wenn es andere Perspektiven für junge Menschen im Delta gäbe.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Zwar ist die nigerianische Regierung darum bemüht, ihre Wirtschaft zu diversifizieren, um der notorischen Abhängigkeit von Rohöl-Exporten zu entkommen, diese Bemühungen stecken aber noch in den Kinderschuhen. Nicht nur gibt es in Nigeria keine nennenswerte industrielle Produktion, es gibt auch keine gut funktionierenden Öl-Raffinerien.

Die vier existierenden nigerianischen Raffinerien operieren weit unterhalb ihrer Kapazitätsgrenze. Deshalb werden in großem Stil raffinierte Ölprodukte wie Diesel, Benzin, Kerosin für Haushalte oder Motoröl importiert. Das ist teuer, aber einige wenige nigerianische Geschäftsleute verdienen daran enorm, weil sie Monopole auf den Import halten. Dabei wird hier, könnte man sagen, noch einmal, und in ganz großem Stil, von der nigerianischen Bevölkerung gestohlen. Bei einem Export von mehr als 2 Millionen Fässer Rohöl pro Tag (vor der Corona-Krise) verlieren das Land und seine Bevölkerung fast 25 Mio Euro pro Tag.

Letztlich profitieren wir alle vom billigen Rohöl aus Nigeria. Die sozialen Kosten und die Umweltkosten der Gewinnung des Rohstoffs werden externalisiert, westliche Ölkonzerte weigern sich weiterhin, für ihre Umweltvergehen Verantwortung zu übernehmen. Aktivist*innen aus dem Delta fordern deshalb, dass das Öl entweder ganz unter der Erde bleiben solle, oder dass die lokale Bevölkerung legal in sogenannten Modularen Raffinerien an der Weiterverwertung des Rohstoffes beteiligt wird. Doch solange die politische Eliten von ihrer Zusammenarbeit mit westlichen Akteuren und der strukturellen Benachteiligung ihrer eigenen Bevölkerung profitieren können, ändert sich wenig.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Nigeria ist damit ein Beispiel für eine stark von einer Ressource abhängige Wirtschaft, die durch ehemalige Kolonialmächte mit Hilfe lokaler Eliten ausgenutzt werden. Wer dabei schlussendlich die Verantwortung für die fortlaufende Zerstörung von vielfältigen Existenzen zu verantworten hat, ist eine schwierige Frage. Klar aber ist: Es ist der weiße Mann, der die Umweltzerstörung im Delta initiiert hat, und der weiterhin massiv davon profitiert.

Sich selbst anschauen

An einem unserer Tage im Niger Delta besuchen wir gemeinsam mit Fyneface auch eine sogenannte Gas Flaring Site in Ughelli, im Bundesstaat Bayelsa. Bevor das Öl Richtung Meer gepumpt wird, um dort direkt auf Öltanker verladen zu werden, muss das bei der Bohrung als Nebenprodukt gewonnene Gas vom Rohöl getrennt werden. Studien sagen, dass man von dem jährlich im Delta verbrannten Gas fast die Hälfte des Stromverbrauchs Westafrikas decken könnte. Im Moment ist das zu teuer, man will das Gas auf die billigst mögliche Art und Weise loswerden.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Deshalb verbrennt man es. Früher haben die unzähligen Flaring-Sites das Gas in den Himmel verbrannt. Weil sich die Bevölkerung des Deltas aber wiederholt über die Umwelteffekte des Flarings beschwert hat, werden die Flammen jetzt parallel zum Boden in den Wald geheizt. Man versucht, sie zu verstecken. Dabei brennt man große kreisrunde Rodungen in den Wald. Um die Flammen herum backen Männer und Frauen auf kleinen Bambusmatten eine Art Chips aus Maniokmehl. Eine dieser Frauen ist Ese Awolowo. Sie hat große Augen und sieht mich direkt an. In der Hand hält sie ihr Mobiltelefon. Ese trägt ein Nylon-T-Shirt, auf dem das Gesicht eines weißen Mannes aufgedruckt ist. Es scheint in dieser zufälligen Begebenheit eine Bedeutung zu liegen: 400 Jahre Kolonialgeschichte und die fortlaufende Ausbeutung der Rohstoffe ihrer Lebenswelt unter tatkräftiger Mithilfe westlicher Firmen sitzen der jungen Frau im Rücken.

Gas Flaring Site, Ughelli, Niger Delta

Die Holzhändler von Makoko

Aus dem Niger-Delta wird nicht nur Öl exportiert. In dem reichen Ökosystem wird beispielsweise auch Holz geschlagen. Diese Holz wird über Binnengewässer transportiert, dabei werden Baumstämme auf dem Wasser zu großen, etwa ein Hektar großen Flössen zusammengebunden, und dann von motorisierten Holzbooten auf einer zweimonatigen Reise bis nach Lagos gezogen.

In Lagos kommt das Holz deshalb nicht im Hafen von Tin Can Island an, sondern über das Binnengewässer der Lagune. Die größten Holzhändler und Sägewerke liegen in Makoko, einer ursprünglich von Flüchtlingen aus dem Benin gegründeten Gemeinde auf dem Wasser. Da sie in Lagos kein Land fanden, haben sie sich auf Holzpfählen in der Lagune selbst angesiedelt. Heute ist Makoko die größte schwimmende Stadt der Welt, sagt der Guardian.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Immer weiter wächst Makoko in die Lagune hinein. Teile der Gemeinschaft, die früher einmal auf dem Wasser lagen, sind heute mit dem Festland verbunden. Wenn man in diesen Stadtteilen zu Fuß geht, hat man den Eindruck, der Boden unter einem schwinge und gäbe nach. Das liegt an dem Material, aus dem er gemacht wurde: Sägemehl und Müll. Aus dem im Vergleich zum Ölhandel weniger globalen, weniger lukrativen Handel mit Holz wird so nach und nach neues Land gewonnen.

Werden wir alle in Zukunft entweder auf künstlichen Inseln, auf Landerweiterungen aus Müll, oder in schwimmenden Häusern leben? Fast scheint es so, als ob die Kinder in Makoko, deren Schwimmkünste und Gleichgewichts-Fähigkeiten unseren weit überlegen sind, für ein neues Jahrtausend der Überschwemmungen üben. Wer aber nicht mit Holz handelt, sondern mit größeren Werten, der wohnt in Lagos nicht in Makoko sondern auf einer anderen, dem Wasser abgetrotzten Halbinsel – in der pompöses Eko Atlantic City. Dort werden ganz andere Sicherheitsvorkehrungen für das neue Jahrtausend getroffen.

Eko Atlantic City

Eko Atlantic City ist ein gigantisches Landerweiterungsprojekt südlich des Reichen-Stadtteils Victoria Island. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren wurde eine Unmenge Sand vom Grund des Atlantischen Ozeans aufgeschüttet, auf dem mittlerweile immerhin drei Hochhäuser stehen. Der neue Stadtteil liegt mehrere Meter höher als der Rest von Lagos. Er ist komplett mit eigenem Stromkraftwerk, autarkem Wasserkreislauf, und neuester Sicherheitstechnik ausgerüstet.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Eko Atlantic City ist eine Insel der Seligen, ein kleines Paradies der reichen schwarzen und weißen Geschäftsmänner. Wenn eines Tages der Meeresspiegel immer weiter steigt, werden die Bewohner der Hochhäuser auf die Zerstörung schauen können, für die sie selbst mit verantwortlich sind. Darum herum wird die Stadt, die auf Sümpfen und Sand gebaut ist, untergehen. Verantwortlich für dieses urbane Großprojekt sind die Chargoury Brüder.

Chagoury Brothers

Das Projekt der Landerweiterung zum Bau von Eko Atlantic City wird seit den frühen 2000er-Jahren von den Chargoury Brüdern betrieben und vorangetrieben. Die beiden nigerianisch-libanesischen Oligarchen waren enge Vertraute des nigerianischen Militärdiktators Sani Abacha, der Nigeria von 1993 bis zu seinem Tod im Jahr 1998 brutal regierte. Sie waren für die Geldwäsche des Diktators verantwortlich. Als Abacha starb, blieben die Chagoury Brüder auf einem Berg voll Geld hängen, den sie nicht legal ausgeben konnten.

Eko Atlantic City ist ihr gelungener Streich das gestohlene Vermögen aus dem Ölhandel des ehemaligen Militärdiktators mit Hilfe eines groß angelegten Infrastruktur-Projektes zu waschen. Mit ihrem Geld bezahlen sie die gigantische Landgewinnung aus Sand, der vom Boden des Atlantischen Ozeans gesammelt und aufgeschüttet wird, nach modernster Technik. Technische Beratung kommt unter anderem von der libanesischen Baufirma Dar Al-Handasah.

Von dem gewonnen Land profitiert der große Teil der Bevölkerung nicht. Stattdessen zieht bald die US-Botschaft auf das dem Atlantik abgerungene Land. Die Entscheidung dafür traf die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton, die dafür im Wahlkampf 2016 von US-amerikanischen Medien massiv kritisiert wurde, weil die Chargoury Brüder als Förderer und finanzielle Unterstützer ihres Mannes bekannt sind. Noch einmal wird hier die westliche Unterstützung für korrupte politische Strukturen in Nigeria deutlich.

UPS Commercial

Es gibt eine Werbung von UPS, der großen Logistikfirma, mit dem Titel I love Logistics. Darin sieht man Pakete magisch von Ort zu Ort springen, mühelos getragen von unterschiedlichen Verkehrsmitteln und glücklichen UPS-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Im Bezug auf die Kampagne hat die damalige Marketingchefin von UPS, Betty Wilson, behauptet, Logistik wäre eine unendlich komplexe, wunderbar reibungslose Choreographie.

Ich muss an diese Werbung und ihre offensichtlichen Widersprüche denken, als wir im Flugzeug zurück nach Deutschland sitzen. Während das Rohöl Nigeria in Richtung nördlicher Hemisphäre verlässt, jeden Tag, in unbestimmter Menge, kommt es, nachdem es die ganze Produktionskette und die Lebenszyklen von Konsumgütern durchlaufen hat, in prozessierter Form wieder in das Land zurück, als Altwaren, als Plastikstühle oder Autointerieurs.

'Wahala’, (c) Robin Hinsch

Nichts an diesen Warenkreisläufen, an der Verarbeitung und Veredelung, der Raffinierung und Verbrennung von Öl, ist reibungslos, nichts daran ist effizient. Überall leckt es, überall treten Flüssigkeiten aus, werden Menschen krank, wird der Mangrovenwald verdreckt. Es sind diese Warenflüsse, welche die Ungleichheit von Welten auf unserem Planeten zementieren.

Die Choreographie, die von UPS als wundersame, reibungslose Transportkette dargestellt wird, ist von Brutalität und Gewalt gekennzeichnet. Sie wird von Öl angetrieben, sie wird von wenigen mächtigen Menschen gelenkt, und sie führt im Endeffekt dazu, dass die Bevölkerung in Lagos und Port Harcourt weder Elektrizität noch fließendes Wasser zur Verfügung haben.

Von der mangelnden Infrastruktur und fehlenden politische Unterstützung hat uns unter anderem der Busayo erzählt. Im Flugzeug denke ich auch an ihn, und die Party in Bariga, wo der großen Logistik-Choreographie ein ganz anderer Tanz entgegen gesetzt wird.

Bariga Blockparty

Am Tag vor unserer Abreise fahren Robin und ich gemeinsam mit Abdul und Rafil nach Lagos Bariga, einem Stadtteile auf dem Mainland, um dort Busayo zu besuchen. Als wir direkt nach unserer Ankunft auf der Brücke im Stau standen, haben Robin und ich diesen Stadtteil, seine Hütten und Bewohner, aus der Ferne gesehen, ohne diese Umgebung im Geringsten zu verstehen. Bariga gilt als gefährliche Gegend, weil es hier immer wieder zu bewaffneten Überfällen kommt. Die Polizei selbst hat keinen Zugriff auf das Viertel. Gleichzeitig gibt es eine aktive Kunstszene, unter anderem veranstalten lokale Choreographen in den Vierteln rund um Bariga immer wieder von ihnen selbst so genannte Slum Parties, bei denen die lokale Bevölkerung zum Feiern zusammenkommt.

Einer von ihnen ist Busayo. Er hat dünne Rastas und trägt eine schwarze Hornbrille. Sein Haus liegt hinter einem kleinen Hof, auf dem ein Plastikzelt und mehrere Plastiktische und Plastikstühle für eine Kinder-Geburtstagsfeier aufgebaut sind. Hinter dem Haus steht ein kleiner elektrischer Brunnen, von einem Generator betrieben, auf der anderen Seite des Zauns wird der Müll entsorgt, die Abwässer werden in offenen Kanälen in die Lagune abgeführt. Mit einer Gruppe von Freunden und Freundinnen von Busayo, alles Künstler*innen, fahren wir zum Fußballfeld und zum Anleger an der Lagune.

Als wir von unserer Tour durch Bariga zurückkehren, hat sich die Geburtstagsfeier im Hof in eine kleine Block-Party entwickelt. Die erweiterte Familie und ihre Freund*innen sitzen um die Tische herum und trinken Bier, die Kinder wollen Handshakes und Fotos machen. Es gibt einen DJ und einen Moderator, der die Sommerparty am Laufen hält.

Kurz nachdem wir uns zur Feiergesellschaft dazugesetzt haben, fragt mich der Moderator: Can you say something? As a guest from Germany, what would you like to tell us? Ich sage, dass ich in Nigeria bin, um über die Situation der Menschen zu sprechen, um von ihren Leben zu berichten, und wie es durch Handel mit meinem eigenen Leben verwoben ist. Das ist gut, es gibt Applaus. Aber es ist noch nicht genug. Einige Minuten später kommt der Moderator wieder und frage mich: Can you also do something for us? What can you do?

Erst bin ich perplex, und weiß nicht wie ich antworten soll. Ich denke kurz nach und sage, dass ich tanzen kann. Ich bin aufgeregt, aber weiß: Jetzt kannst Du nicht zurück. Der DJ spielt einen Track, den ich nicht kenne. 100 Gesichter schauen mir zu, wie ich versuche, afrikanische Tanzschritte zu imitieren, die ich vorher von den Kindern unter dem Zelt gelernt habe. Das Ganze wird zum Battle, ich trete gegen Opeyemi Babayemi aus Bariga an, eine Freundin der Familie von Busayo. Natürlich habe ich keine Chance, aber das macht nichts.

Ich bin verschwitzt und glücklich. Ich verirre mich in der Gruppe, ich trinke Bier, ich werde angesprochen auf das Tanzen. Es ist immer alles verwickelt und verklebt und unübersichtlich. Ich weiß nicht, wohin schauen. Es sind zu viele Gesichter, zu viele Menschen, zu viele farbige Gewänder, zu viele Stimmen. Es ist immer laut, immer Gehupe, es ist immer Verkehrschaos, es wird immer geredet und gelacht. Man sieht Leute, die sich auf der Straße anschreien, es werden derbe Witze gemacht, und die Männer laufen Hand in Hand.

Ich fühle meine eigene Hilflosigkeit und zugleich meine Freude darüber, dass mich Rafil später an die Hand nehmen und seine Finger mit meinen überkreuzen wird. Ich bin dankbar, dass Busayo uns in seine Familie eingeführt hat. Ich bin machtlos, meiner eigenen Verstricktheit in die Choreographie der Logistik gegenüber, und ich bin traurig, dass ich nichts tun kann, für diese Frauen und Männer.

Verstrickungen gibt es unendlich viele, sie alle aufzuzeichnen gelingt meistens nicht. Ich stelle mir die verschiedenen Kapitel dieser Dossiers manchmal vor wie die Notizkarten, die Mark Lombardi geschrieben hat, bevor er seine großen Verbindungskartenzeichnungen angefertigt hat. Es sind Indikatoren für eine allgemeine Verwobenheit.

‘Wahala’, (c) Robin Hinsch
'Wahala’, (c) Robin Hinsch
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